Mehr als 80 Vertreterinnen und Vertreter aus Bibliotheken und Fachstellen diskutierten auf der 71. Fachkonferenz der Bibliotheksfachstellen Deutschland in Hamm über die Zukunft der Bibliotheken. Unterstützt durch Moderatorinnen und Moderatoren waren die Teilnehmenden auf der Fachstellenkonferenz eingeladen, gemeinsam Visionen von Öffentlichen Bibliotheken zusammenzutragen und anschließend zu diskutieren, welche Schritte in den kommenden Jahren notwendig sind, damit die von ihnen angestrebte Vision Wirklichkeit werden kann.
Der Vorsitzende der Fachstellenkonferenz Alexander Budjan begrüßte die Teilnehmenden und dankte der Fachstelle für öffentliche Bibliotheken NRW und dem Team der Stadtbücherei Hamm für die Vorbereitung und Organisation der Veranstaltung. Die weiteren Grußworte sprachen Marc Herter, Oberbürgermeister der Stadt Hamm, und Beate Möllers, Leiterin des Referats Bibliotheken, Literatur, Archive, Erhalt des schriftlichen Kulturerbes im Ministerium für Kultur und Wissenschaft NRW.
Impulsvortrag: Nebenan ist die Zukunft schon da
Als Impuls für die spätere Visionsarbeit gab es einen Blick ins Nachbarland von Egid van Houtem. Der Direktor der Bibliothek Kerkrade in Limburg skizzierte anschaulich die Entwicklungen der vergangenen Jahre in den Niederlanden. Die Bibliotheken stehen dort vor ähnlichen Herausforderungen wie in Deutschland. Die Zahl der Entleihungen sowie die Zahl der Mitglieder, also der Menschen mit einem Bibliotheksausweis, gehen seit Jahren zurück. Themen wie Fachkräftemangel, Leseförderung und digitale Spaltung sind auch in den Niederlanden auf der Tagesordnung. Der Vortrag zeigte, mit welchen Strategien die Bibliotheken im Nachbarland diese Aufgaben bewältigen.
Struktur des niederländischen Bibliothekswesens
Die niederländische Bibliothekslandschaft ist auf drei Ebenen organisiert: National, Provinzen und Kommunen. Die Koninklijke Bibliotheek (KB) (Königlich niederländische Nationalbibliothek) ist für die IT-Infrastruktur, das Netzwerk und die Statistik verantwortlich. So gibt es in den Niederlanden eine zentrale Onleihe. In jeder Provinz gibt es eine Fachstelle, die für Innovation und Logistik zuständig ist. Die Verantwortung für die öffentlichen Bibliotheken liegt bei den Kommunen. Für den Bestandsaufbau ist die Dienstleistungsorganisation NDB Biblion zuständig, die von Bibliotheken, Verlegern und Buchhandlungen gemeinsam verwaltet wird. NDB Biblion bietet allen Bibliotheken der Niederlande Dienstleistungen verschiedener Art an, die unter anderem die inhaltliche und materielle Verwaltung der Erwerbungen beinhalten.
Seit 2015 gibt es in den Niederlanden ein nationales Bibliotheksgesetz. Hier wurde die Verantwortung für die öffentlichen Bibliotheken vom Staat in die Hände der Gemeinden gelegt. Dies führte allerdings dazu, dass viele Kommunen Büchereien wegen Geldmangels geschlossen haben. Deshalb soll 2025 eine Gesetzesänderung die Kommunen zum Betrieb einer Bibliothek verpflichten.
Mitarbeiterstruktur: Bunte Truppe mit vielen Ehrenämtlern
In den niederländischen Bibliotheken arbeiten kaum noch Bibliothekare. In manchen Bibliotheken ist einer von 40 Mitarbeitenden noch ein ausgebildete(r) Bibliothekar(in). Van Houtem spricht von einer „bunten Truppe“. Auch Egid van Houtem selbst ist kein Bibliothekar, sondern Kulturwissenschaftler. In den Niederlanden gibt es keinen bibliothekarischen Studiengang bzw. keine Ausbildung mehr. Dagegen hat die Zahl der ehrenamtlich Mitarbeitenden enorm zugenommen. Zwischen 2010 und 2020 stieg die Zahl der Ehrenamtlichen in den Niederlanden von 7.000 auf mehr als 22.000. Auch in der Provinz Limburg läuft ohne ehrenamtliche Kolleginnen und Kollegen nichts mehr, so van Houtem.
„Rückblickend können wir uns fragen, ob vielleicht der Mangel an formaler Bibliotheksausbildung nicht die Stärke des niederländischen Bibliothekssektors war. Der Zustrom von Mitarbeitenden ohne Bibliotheksausbildung mit unterschiedlichstem Gepäck und Einsichten trug zum Prozess der Neuerfindung der Bibliothek bei.„
Ton van Vlimmeren, amtierender Präsident von EBLIDA
Damit sich auch fachfremde bibliothekarisches Fachwissen aneignen können, wurde auf Initiative der Koninklijke Bibliotheek (KB) und der Stiftung SPN die digitale Lernplattform „Bibliotheek Campus“ eingerichtet. Das Angebot umfasst Meetings, E-Learning-Formate, firmeninterne Schulungen, offene Registrierungsschulungen, Workshops und Webinare. Einige Weiterbildungen sind kostenlos, andere können gegen Gebühr gebucht werden.
Künstliche Intelligenz unterstützt beim Bestandsaufbau
Die Anzahl an Angeboten und Kooperationen im Bereich Bildung und Kultur hat stark zugenommen wie diese beiden Grafiken zeigen:
Um die vielen neuen Aufgaben und Herausforderungen zu bewältigen, setzen die Niederländer auf Künstliche Intelligenz beim Bestandsaufbau. 75 Prozent der Medien werden nicht mehr von Lektoren ausgewählt, sondern mittels künstlicher Intelligenz. Hinter dieser „künstlichen Intelligenz“ verbirgt sich ein Algorithmus, der von Menschen „trainiert“ wird, also mit Daten gefüttert wird. Zusätzlich arbeitet der Anbieter DNB Biblion beim Bestandsaufbau mit verhaltensbasierten Recommender Systemen, die auf der anonymisierten Beobachtung von Nutzerverhalten und der statistischen Auswertung dieser Daten basieren.
Die Bibliothek als Partner der Behörde
In den Niederlanden wurden die kommunalen Dienstleistungen digitalisiert. Das heißt, Führerscheine oder Personalausweise können nur noch digital beantragt werden. Da aber auch in den Niederlanden noch nicht alle Bürger*innen die notwendigen digitalen Kompetenzen besitzen, hat die Regierung 2019 die Initiative IDO (Informatiepunt Digitale Overheid) gestartet. In den Bibliotheken wurden so genannte Informationspunkte eingerichtet. Hier können die Menschen sich kostenlos bei allen digitalen Verwaltungsdienstleistungen helfen lassen. Nach Angaben der Regierung nutzen dies jährlich 4 Millionen Menschen.
Auch bei anderen Themen arbeiten Behörde und Bibliothek eng zusammen. In Venlo hat die Kommune in der Bibliothek zum Beispiel einen Info-Schalter zum Thema Nachhaltigkeit eingerichtet. Die Bibliothek in Weert bietet berufliche Coachings zum Beispiel zum Thema Bewerbungsschreiben an.
Workshop-Teil: Der Blick in die Glaskugel
Im Anschluss an den Vortrag durften die Teilnehmenden in acht Kleingruppen selber den Blick in die Glaskugel werfen. Zunächst galt es ganz ohne Scheuklappen und Schranken im Kopf eine Vision zu entwickeln. Wie kann eine Bibliothek der Zukunft aussehen, wenn alles möglich wäre? Im zweiten Teil sollten die Herausforderungen auf dem Weg in die Zukunft benannt werden, die die Vision beeinträchtigen können. Wie kann der Weg in die Zukunft realistisch aussehen? Welche Weichen gilt es für eine optimale Zukunft zu stellen? Die Ergebnisse wurden beim anschließenden Gallery Walk präsentiert. Mit je einem Mitglied einer anderen Kleingruppe sahen sich die Teilnehmenden die „Ernte des Tages“ gemeinsam an und kamen so noch einmal ins Gespräch.
Podiumsdiskussion: Bibliothek ist eine Pflichtaufgabe!
Bei der abschließenden Podiumsdiskussion zogen die Vertreter*innen der Kleingruppen ein positives Resümee des Tages. Vor allem die anregende Atmosphäre und die Möglichkeit, sich persönlich auszutauschen, wurde hervorgehoben. Digitalisierung ist halt nicht alles.
Eine zentrale Vision, die genannt wurde, ist auch eine Forderung an die Politik. Bibliothek muss eine Pflichtaufgabe werden – verankert in einem nationalen Bibliotheksgesetz. Das würde gleiche Rahmenbedingungen für alle Bibliotheken schaffen. Genannt wurde auch der Wunsch nach mehr zentralen Strukturen. Dann wäre zum Beispiel eine Onleihe für das ganze Land realisierbar wie es sie in den Niederlanden gibt. Oder eine gemeinsame digitale Lernplattform mit Kursen für Quereinsteiger.
Damit diese Visionen Realität werden, sind Verbände und Fachstellen gefragt. Aber auch jeder Bibliotheksmitarbeitende kann hier die Weichen stellen. Deshalb lautete auch ein Appell in der Abschlussrunde: Erzählen Sie von Ihrer täglichen Arbeit und verändern sie so das Bild von Bibliotheken in den Köpfen der Politiker*innen. Machen Sie der Politik beispielsweise deutlich, dass eine Bibliothek auch indirekte Wirtschaftsförderung leistet. Denn nur mit guten Bildungsangeboten wird es fachlich gut ausgebildete Fachkräfte geben.
Aus unserer Sicht war der Tag ein voller Erfolg. Wir möchten uns bei allen Teilnehmenden bedanken, dass sie so toll mitgewirkt haben, bei unseren Moderator*innen für das großartige Konzept und beim Team der Stadtbücherei Hamm, das wieder einmal ein toller Gastgeber war. Wir freuen uns schon jetzt, Sie bei einer unserer nächsten Veranstaltungen wiederzusehen.